Wenn ich schon nicht fahren kann

Es ist momentan einfach zu kalt draußen, um ordentlich Motorrad zu fahren. Und was macht der geneigte Motorradfahrer, wenn er schon nicht fahren kann? Er redet zumindest darüber. Über das Motorradfahren, über vergangene Motorradurlaube, über neue Motorräder.

Und wenn ich schon mit den Kollegen zusammen sitze und über neue Motorräder beratschlage, kommen wir auch mal wieder zum Thema „Motor ordentlich einfahren“. Und da gehen die Meinungen schon ein wenig auseinander. Einer meint, dass sei heutzutage gar nicht mehr notwendig, der nächste sagt, es gebe nichts schlimmeres, als das wegzulassen und der nächste behauptet, das sei eh alles nur eine Verschwörung zum Kundenfang…

Ich für meinen Teil bin da ein wenig unschlüssig.

Motor einfahren: die Theorie

Wie kommt es denn zu diesen unterschiedlichen Meinungen? Mal einige Tatsachen zusammengefasst:

Ein Motorradmotor wird aus nagelneuen Guss- und Schmiedeteilen hergestellt. Die kommen aus großen metallverarbeitenden Betrieben und sehen im Neuzustand sauber, ordentlich und absolut glatt aus. Die Theorie besagt nun, dass diese Teile, genauer (d.h. unter dem Mikroskop) betrachtet doch gar nicht so glatt sind, dass winzige Unebenheiten existieren. Und wenn dann ein Motor die erste Zeit läuft, müssen sich die ganzen Metallteile erst aneinander „gewöhnen“, gegenseitig diese Unebenheiten „abschleifen“ und dadurch erst wirklich glatt werden. Kling sinnig, oder?

Eine weitere Theorie hat etwas mit dem Herstellungsprozess von Motorradmotoren zu tun. Diese werden ja gegossen. Und für den Gussprozess braucht der Hersteller eine Form. Und damit diese Form nicht am frisch gegossenen Motor kleben bleibt, wird ein wenig Sand aufgetragen, quasi als Trennmittel. Und diesen Sand bekommst du als Hersteller nie ganz raus vor dem ersten Zusammenbau des Motors. Daher sagt die Theorie, dass innerhalb der Einfahrzeit dieser Sand vom Motorenöl „weggeschwemmt“ wird und dann beim ersten Ölwechsel „verschwindet“. Auch nachvollziehbar.

Motor einfahren: die Herstellerangaben

Und irgendwie sind sich die Hersteller da einig. In praktisch jedem Betriebshandbuch findest du einen Abschnitt zum Thema „Einfahren“ des Motors. Da wird praktisch durchgängig geraten, innerhalb der ersten 1000 Kilometer (manchmal sogar 1600 Kilometer) den Motorrad nicht zu Höchstdrehzahlen zu treiben, verhalten zu fahren und Lastspitzen möglichst zu vermeiden. Und grundsätzlich den Motor deines neuen Motorrads immer ordentlich warm zufahren.

Motor einfahren: Schäden

Jetzt hat mich das Thema einfach mal interessiert und ich habe beim Motorradhändler meines Vertrauens nachgefragt. Die Frage war ganz einfach: Sind denn irgendwelche Fälle bekannt, bei denen ein Schaden auf ein mangelhaftes „Einfahren“ des Motorrads zurückzuführen ist? Oder zumindest mit hineinspielt? Oder gar ein Garantieanspruch deshalb abgelehnt wurde?

Die Antwort war zwiespältig: Nein, einen Schaden, der lediglich auf ein mangelhaftes Einfahren des neuen Motorrads zurückzuführen ist, ist ihm noch nicht untergekommen. Aber (großes ABER): Er hat schon Fälle gehabt, bei denen dies mit Sicherheit hineingespielt hat. Das waren dann zwar keine speziellen Defekte, sondern ganz allgemein ein schlechter Zustand des Motorrads trotz eigentlich ausreichender Pflege. Ich kann nur die Stirn runzeln. Er erklärt. Das sind dann die Motorradfahrer, die quasi mit quietschenden Reifen zur und von der Inspektion fahren, die grundsätzlich den Motor nie (sowohl während der Einfahrzeit als auch im Normalbetrieb) warmlaufen lassen und immer, wenn sie auf dem Motorrad sitzen, ohne Fingerspitzengefühl gleich alles rausholen müssen. Und da kommt es dann auch immer wieder zu Problemen an der Maschine. Wobei er noch einschränkt, dass dies in den letzten Jahren doch stark nachgelassen hat.

Das kann ich nachvollziehen, kenne ich doch tatsächlich einen Motorradfahrer, dessen Moped immer wieder „herumzickt“, der jedoch auch im Stand nach dem Anlassen gleich mal als Test die Drehzahl bis in den Begrenzer hoch drescht…

Also ein konkreter Schaden auf Grund mangelnden Einfahrverhaltens gibt es nicht.

Motor einfahren: praktische Bedenken

Jetzt bin ich natürlich auch jemand, der seine eigene Meinung zu den meisten Dingen hat. Und die liegt, meistens zumindest, irgendwo in der Mitte. Und einiges sagt einem ja auch der gesunde Menschenverstand.

Die Theorie mit dem Sand in den Gussformen mag ja vielleicht noch in den 80ern irgendwo nachvollziehbar gewesen sein. Aber eines ist ja klar: heutzutage wird das Sand als Trennmittel nicht mehr eingesetzt. Insofern dürfte da auch nur wenig ausgeschwemmt werden müssen, oder?

Und dass sich die Teile auch erst aneinander gewöhnen, dass Metallteile sich gegenseitig glatt schleifen müssten, ist auch nicht so klar. Wir sind hier ja nicht mehr in den 50ern, wo nach der ersten Nutzung eines neuen MAN-Lkw beim Ölwechsel richtige Eisenspäne mit aus der Ölwanne abgeflossen sind. Wenn du heutzutage den ersten Ölwechsel durchführst, findest du ja trotz intensiver Suche kein einziges Metallpartikelchen. Dies bedeutet, dass eben doch nichts „abgeschliffen“ wird.

Nebenbei bemerkt: Der Großteil des „Einfahrens“ dürfte bereits nach fünf Minuten im Stand erledigt sein, während auf dem Hof des Motorradhändlers die nagelneue Maschine noch bewundert wird. Immerhin bewegen sich die Kolben in dieser Zeit halt bescheidene 10.000 mal hoch und runter…

Und zu guter Letzt: Hast du schon mal ein Autowerk besichtigt? Schau mal, wie dort ein Dieselmotor vor dem Einbau getestet wird…

Also ist es unnötig den Motor einzufahren?

Ich hatte bislang drei nagelneue Motorräder. Und ich habe die Einfahrvorschriften jeweils immer penibel eingehalten. Und dies, obwohl ich eigentlich gar nicht daran glaube.

Allen technischen Vorgaben und allen Fachartikeln zum Trotz habe ich peinlich genau darauf geachtet, die ersten 1000 Kilometer mit dem Motorrad alles ein wenig gemütlicher zu machen, einfach das Gas nicht allzu weit aufzuziehen, immer den Motor ordentlich warm zu fahren und erst nach dem ersten Monat zu beginnen, ambitionierter zu fahren. Warum?

Zunächst muss ja auch ich selbst, also der Fahrer, sich an das neue Motorrad gewöhnen. Selbst wenn du noch so toll bist als Motorradfahrer, du brauchst einfach eine Weile, bis du deine Maschine so beherrschst, dass du sie ambitionierter bewegen kannst.

Und dann kommt noch hinzu: Die Grundregel, das Gas nicht weit aufzuziehen, Drehzahl- und Lastspitzen zu vermeiden, bevor der Motor warm gefahren ist, die gilt ja sowieso immer, auch außerhalb der ersten tausend Kilometer. Zumindest bei mir.

Und zu Letzt: Die Einfahrzeit kostet mich ja nichts. Drei bis vier Wochen einfach mal ein wenig dezenter zu fahren, ist ja jetzt wirklich kein Problem. Und dann kann ich hundertprozentig sicher sein, dass egal ob das Einfahren wirklich notwendig ist oder eine Verschwörung der Regierung ist, mein Motorrad in Zukunft gut und langlebig läuft.